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Echte Menschenvon
"I don't wanna talk..."
120 Stundenkilometer, schneller mag sie es nicht, ich aber versuche heimlich, hin und wieder, wenn sie nicht guckt, etwas mehr auf den Tacho zu kriegen. Sie antwortet nicht, sie ist nicht verrückt. Manchmal tun wir so, als ob. Wenn wir meine Eltern besuchen zum Beispiel, denn die sind es wirklich, verrückt, glauben, dass aus mir eines Tages noch etwas werden wird. Manchmal erlauben wir uns dann einen Spaß und beginnen jeden Satz mit dem Wort Manchmal, aber meinen Eltern fällt das gar nicht auf, sie lächeln ohne Unterbrechung. Jetzt fahren wir in eine völlig andere Richtung, weit weg von Mama und Papa. Denn Verrückte planen nie etwas, das erst am nächsten Tag seine Wirkung entfaltet, Verrückte machen immer den gegenwärtigen Augenblick zum Dreh- und Angelpunkt.
Ich könnte schwören, dass die letzten zehn Autos, die uns entgegengekommen sind, alle blau waren. Kann das sein, hmm, kann das wirklich sein? Kann schon sein, natürlich kann das sein, aber es ist nicht wichtig, nicht wahr? Es ist nicht wichtig, beschließe ich ganz allein.
Hey, aber das weisst du doch, sage ich. Frag mich doch mal was wirklich Schweres.
Weisst du, Landschaften sind mir irgendwie scheißegal, sage ich. Die sind für mich sowas wie eine Pause, das Verbindungsstück zwischen den Momenten, in denen wirklich was passiert, in denen das Leben wahrhaftig stattfindet. Während des Fahrens aber ist Leben nur ein Standbild, etwas das man im Gepäck hat.
Sing mir dein Lieblingslied, sage ich. Aber nicht den Refrain dazu. Verstehst du, lass den Refrain einfach weg, den übernimmt die Strasse. Ich lenk dann das Auto dazu. Wir sind ein Kunstwerk, Baby. Sie singt ein Lied von Abba, das ohne Refrain wie zerrissen ist, versehrt klingt, weil man ganz automatisch denkt, der Refrain muss dermaßen traurig sein, dass er weggelassen werden musste, weil die dünne Stimme ihn nicht hätte tragen können. Das Geräusch des Motors, das Überrolltwerden der Strasse, das ist die Verpackung und wir sind verkauft. Ich schalte die Scheinwerfer ein, obwohl es früher Nachmittag ist. Ich wünsche mir einen Leuchtturm. Um den möchte ich dann herumfahren, bis der Tank leer ist oder bis Abba sich wieder zusammentun und eine neue Platte aufnehmen - oder bis sie mich noch einmal fragt, ob ich sie liebe. Dann würde ich nur aus Spaß so tun, als ginge es dabei um etwas. Um mehr als mein Leben zum Beispiel. Verrückt.
Als sie zu singen aufhört, sage ich: Ich glaube, der Sommer ist vorbei. Es ist zwar schon noch Sommer, verstehst du, es ist ja auch noch richtig warm, aber es ist nur noch ein Zustand, der bleibt, oder vielmehr geblieben ist. Der Sommer steht nur noch im Passiv, ist eine Sache, die hinausgezögert wird. Vielleicht verstehst du, was ich meine. Dann, nach einer Weile, sage ich noch: Schön hast du gesungen, Babe.
Ich hab mal gelesen, sage ich, dass es in den sechziger Jahren in Amerika einen Automaten gegeben hat, in den man Geld steckte, damit eine Plastikhand herauskam, die man schütteln konnte. Das sollte eine Hilfe für die sein, die sich einsam und allein fühlten.
Was ist deine Lieblingsfarbe?, frage ich sie und schäme mich beinahe dafür, dass ich das noch nicht weiß, nach all der Zeit, die wir uns jetzt kennen. Vielleicht habe ich sie schon einmal danach gefragt oder sie hat es mir von sich aus gesagt, ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern.
Wir reden nicht mehr. Wir werden auch nicht mehr angesprochen. Wir sind beim stillschweigenden Einvernehmen angekommen. Jetzt guckt sie mich an. Ich springe aus dem Wagen, öffne den Kofferraum, hole die Tasche heraus, reiche sie ihr, sie ist auch ausgestiegen, sie ist nur ein Mensch, sie ist nicht krank, sie ist bereit zu gehen. Und ich bin mir mit einem Mal nicht mehr sicher, ob ein gesunder Mensch auch unbeschadet vom Arzt wiederkommt. Und weil normale Menschen nicht singend zu einer Abtreibung fahren, friert mich jetzt. Fühlende Menschen tanken nicht, wenn sie zu einer Abtreibung fahren. Und echte Menschen töten keine Kinder. Ich überlege, wie laut ich schreien müsste, um aufzuwachen und wie schrecklich es wäre, dann genau hier an dieser Stelle aufzuwachen, an einer Stelle, von der aus es kein Zurück mehr gibt.
Das Geld ist in der Tasche, sage ich und hasse meine Stimme dabei. Rauchen wir noch eine Zigarette zusammen?, frage ich mit einer anderen Stimme, die mir nicht gehört.
Ich habe keinen Gang eingelegt, trete aber aufs Gaspedal, sodass der Motor aufheult, so laut aufheult, dass sie gar nicht erst in Versuchung kommt, mir zu sagen, dass sie mich liebt; oder ich es zumindest nicht hören kann, sollte sie es tun. Ich warte auf dich und nehm dich wieder mit nach Hause, denke ich, aber jetzt muss ich um die Ecke fahren, ich warte in einer Seitenstrasse auf dich. 2005Herbert Hindringer
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